Leseproben

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Leseprobe zu „verstecken spielen oder eintauchen in Opas verwirrte Welt“

verstecken spielen oder

eintauchen in Opas verwirrte Welt“

Roman

Katharina Göbel

Leseprobe

Teil 1

Aus meiner Sicht

Mein Name ist Jakob

Hab ich mich Ihnen schon vorgestellt? Mein Name ist Jakob. Ich bin 76 Jahre alt. Und seit einiger Zeit passiert etwas Merkwürdiges mit mir … ich kann es nicht beschreiben, ich weiß selbst nicht, ich verstehe es nicht. Das Laufen fällt mir zunehmend schwerer, dabei hab ich das früher immer so gern getan. Neuerdings fühle ich mich unwohl, ja unsicher dabei, einen Schritt vor den nächsten zu machen, seitdem ich nun schon öfter gestolpert bin und mich dabei auch noch verletzt habe. Dabei ist das gar nicht so schwer, nicht wahr? Aber ich möchte niemandem davon erzählen, will es lieber für mich behalten, denn sonst behandeln sie mich alle wieder wie den letzten Dreck, als wäre ich bescheuert. Das tun sie ohnehin schon alle. Anfangs fragten sie noch: „Was ist denn los mit dir?“, als ich mich zurückgezogen habe, nicht mehr rausgehen mochte und auch sie meinen unsicheren Schritt bemerkt haben. Irgendwann fing es auch noch an, dass ich Wörter nicht mehr wusste, die ich sonst immer so oft benutzt habe. Sie fielen mir einfach nicht mehr ein. Und ich habe oft auch nach Stunden noch versucht, das Wort zu finden. Aber vergeblich. Es ist, als würden die Wörter meinen Kopf verlassen. Und ich kann sie nicht davon abhalten. Jeden Tag scheinen es mehr zu werden. Mittlerweile schauen mich die anderen nur so an, wenn meine ,Aussetzer‘ wieder passieren. So, als sei ich dumm und es sei nichts mehr wert, was ich sage. Als sei ich nicht mehr klar im Kopf. Vertrottelt sei ich, ja, aber bin ich deswegen kein Mensch mehr? Kein Mann? Bin ich nicht immer noch Helenes Ehemann und Elises Vater? Sie merken gar nicht, wie sehr sie mich verletzen, indem sie mich so respektlos behandeln.

Ich war früher immer spazieren gegangen, denn ich liebe die Natur ungemein. Alle Vogelarten kenne ich beim Namen und erkenne sie sogar an ihren Lauten. Der Garten bietet mir Ruhe und gibt mir Kraft. Manchmal verbringe ich den halben Tag auf meiner Bank im Garten unter dem Fliederbaum und weiß nicht mal, an was ich dabei denke. An rein gar nichts wohl. Ich lausche dann dem Wind, der durch die Bäume zieht und die Blätter rascheln lässt. Es ist Herbst. Da rascheln die Blätter viel lauter als noch im Frühjahr. Sie sind trocken und rascheln aneinander. Ich habe gleich erkannt, dass der Herbst schon begonnen hat, schon längst, bevor meine Frau es glauben wollte. Ihr habe ich davon erzählt, von meinen Beobachtungen in der Natur. Auch meiner Tochter Elise. Die konnten mich allerdings nicht verstehen. Das habe ich ihren Gesichtern angemerkt. Dem Ausdruck darin. Sie haben brav genickt, aber verstanden, verstanden haben sie mich nicht. Sie denken wohl, ich solle keinen Quatsch reden. Ich habe sie nur böse angeschaut. Wann rede ich denn Quatsch? Die sollen aufpassen, was sie sagen und sich mal beim Reden zuhören. Als täten sie das nicht. Quatsch reden. Meine Frau erst gestern noch.

Elise war gestern bei mir – oder war es vorgestern? Sie hat mir erzählt, dass ihr Chef sie auf der Arbeit ständig anmaule, teilweise ganz ohne Grund, und sie deswegen so genervt sei und keine Lust mehr hätte, dort zu arbeiten. Eben wäre sie noch in der Stadt gewesen und hätte sich etwas Neues zum Anziehen gekauft. Aus Frust meinte sie. Ich kann ihr nicht ganz folgen, versuche den Zusammenhang zu verstehen. Sie ist genervt, und sie kauft sich neue Schuhe, obwohl sie eigentlich mehr als genug habe, erzählt sie mir dann. Und während ich noch über die Bedeutung ihrer Worte grüble, ist sie schon wieder beim nächsten Thema. Sie scheint mich etwas gefragt zu haben, denn sie schaut mich fordernd an. Ich kann mich noch gut an diesen Blick erinnern, als sie mir diesen als kleines Mädchen zuwarf. Sie sah zu goldig aus mit ihren blonden, geflochtenen Haaren und der kleinen Zahnlücke vorne. Damals bettelte sie immer, die Kleider, die ihre Mutter ihr mit so viel Fürsorge und Stolz angezogen hatte, wieder ausziehen zu dürfen. Sie zog nicht gern Kleider an, sie machte sich nie gern schick. Das tut sie auch heute nicht, stelle ich gerade fest, als ich sie begu… sie ansehe. Mit ihrem überdimensionalen, ausgewaschenen grauen Pulli und der braunen Stoffhose, die sie wohl beim Mittagessen bekleckert hat – was ich wegen der hellen Flecken am Oberschenkel vermute.

Damals als kleines Mädchen hat sie mich immer so angeschaut, und hat mich mit ihren lieben Augen angebettelt, mich angefleht, sich einfach umziehen zu dürfen. Dann, wenn ich nicht geantwortet habe, sah sie mich so fordernd an, in der Erwartung, ich würde ihrem Flehen schließlich doch noch nachkommen. Was ich bei meiner kleinen Prinzessin natürlich auch immer gemacht habe. Wie hätte ich anders gekonnt? Väter schlagen ihren kleinen Töchtern so gut wie nie etwas aus. Und sie ist auch heute noch meine Kleine, für die ich alles tun würde. Ja … das Band zwischen Vater und Tochter ist doch etwas ganz Besonderes. Ein Vater möchte sein Mädchen immer beschützen und wird schnell schwach, wenn sie lieb bittet, da genügt schon ein Blick … ein Blick genügt.

„Papa!“, schreit sie. Ich erschrecke und zucke merklich zusammen. Ich will Elise nicht eingestehen, dass ich ihr nicht zugehört habe. Jedenfalls nicht das, was sie mir soeben erzählt hat. Und nun geht auch sie nicht mehr darauf ein. Es ist zu spät dafür, stelle ich bedauernd fest.

„Was hast du denn hier gemacht?“, wechselt sie schlagartig das Thema.

„Im Garten?“

„Ja“, bestätigt sie meine Ahnung.

„Nichts“, beginne ich. „Sieh nur, die Vögel sind ganz aufgeregt, die Blumen verlieren schon ihre Blüten und die Bäume die Blätter.“

Ich sehe in die Baumwipfel und dann auf den Boden im Hof, auf dem schon einige herbstlich bunte Blätter liegen. In rot, braun und gelb. Ein prachtvolles Farbenmeer. Das liebe ich am Herbst am meisten. Elise sieht sich unterdessen gelangweilt um. Damit ich ihre Aufmerksamkeit nicht verliere, frage ich: „Und wie war dein Tag? Was hast du denn gemacht?“

Elise sieht mich an und streichelt mir sanft über die Wange. „Beobachte noch weiter die Vögel, Papa! Ich gehe hoch zu Mama. Sie braucht meine Hilfe.“

Ich sehe meiner Tochter nach. Verwirrt. Wieso antwortet sie mir denn nicht? Wohin geht sie plötzlich? Meine Frau ist doch einkaufen gegangen. Das habe ich jedenfalls so in Erinnerung.

Das letzte Mal Einkaufen

Einkaufen war ich bis vor Kurzem noch gemeinsam mit meiner Frau Helene. Wir kaufen immer auf dem Wochenmarkt unser Obst und Gemüse, meine Frau meint, dort sei es frischer als anderswo – womit sie vermutlich recht hat. Beim Bezahlen habe ich der Verkäuferin das letzte Mal zu wenig gegeben.

„Neun Euro fünfzig“, sagte meine Frau, die glaubte, ich hätte den Preis nicht richtig verstanden. Dabei war ich irgendwie einfach überfordert, wusste nicht mehr genau, wie viel ich der Frau schuldig war. Welchen Schein musste ich ihr noch gleich geben? Dumm – werden Sie nun denken. Ich kann es auch nicht erklären, ich war einfach wirr im Kopf. Aber das kann ja mal passieren, nicht? Eine Woche später passierte es dann wieder. Und meine Frau sah mich schief an. Dieser Blick, eine Mischung aus Scham und Mitgefühl, geht mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf.

„Jakob, gib mir das Geld. Ich mach das.“

Den ganzen restlichen Tag war sie merkwürdig zu mir, als grüble sie immerzu, versuchte eine Erklärung für mein komisches Verhalten zu finden.

Seitdem hat sie das Portemonnaie an sich genommen, wenn wir rausgehen. Und sie hat begonnen, mich zu beobachten. An ihrem Blick kann ich immer erkennen, wie verunsichert sie ist. Manchmal konfrontiert sie mich mit Rechenaufgaben, an denen ich jedes Mal scheitere – und mit jeder misslungenen Prüfung steigt ihr Misstrauen.

Heute habe ich keine Lust, sie zum Einkaufen zu begleiten. Ich fühle mich nicht besonders und bin eben schon wieder fast gefallen, als ich die Treppe hochgegangen bin. Meine Koordination lässt auch immer mehr nach. Aber Gott sei Dank hat meine Frau es nicht bemerkt.

„Wieso willst du nicht mit?“

„Ich möchte einfach mal zu Hause bleiben.“

„Was hast du?“

„Nichts, ich möchte einfach hier bleiben. Geh du allein.“ Ihr Blick verrät mir, dass sie sich wieder Sorgen macht. Doch am Ende lässt sie mir meinen Willen und den ganzen Tag über denke ich an nichts anderes. Ist wirklich alles in Ordnung mit mir? Ich merke eine Veränderung an mir, die ich nicht wahrhaben möchte. Ich versuche alles, um sie zu verdrängen, doch sie holt mich immer wieder ein, ist jeden Tag anwesend. Eine Veränderung, die sich nicht aufhalten lässt.

Es geht so lange gut, bis meine Frau mich zum Arzt schleppt. Sie meint, ich solle mal zum Neurologen, mich gründlich untersuchen lassen, was eigentlich mit mir los sei. Was soll schon sein? Ich werde eben älter, denke ich, wenn ich auch nichts zu ihr sage. Ich nicke und sie vereinbart den Termin. Ist es nicht normal, dass man sich verändert im Alter? Aber sie lässt sich nicht von der Idee abbringen, dass ich Alzheimer habe.

„So alt bin ich nun auch noch nicht“, erwidere ich. Schließlich bin ich erst 76 Jahre alt. Heutzutage wird man doch über 90. Der Jürgen etwa in der Nachbarschaft oder die Heidi aus der Marksgasse – die hat erst letzte Woche ihren 96. gefeiert.

Doch zum Arzt gehe ich ihr zuliebe dann dennoch. Er stellt tatsächlich eine Art von Demenz bei mir fest, erzählt er uns im Gespräch, nachdem er einige Tests mit mir gemacht hat. Wie im Kindergarten komme ich mir vor. Eine Uhr aufmalen, wäre doch gelacht, wenn ich das nicht mal mehr hinbekäme, denke ich erst, als mir der Arzt die Aufgabe erklärt. Doch dann fällt mir selbst diese Aufgabe so schwer, dass ich sie nicht richtig umsetzen kann. Ich scheitere, denn ich bin total durcheinander auf einmal.

„Eine Art Demenz, was heißt das?“, frage ich.

Und meine Frau spricht gleich aus, was sie schon vermutet hatte: „Alzheimer!“

„Nein, wir vermuten kein Alzheimer“, erklärt der Arzt weiter. Sie schaut verdutzt. Ich frage ihn interessiert – schließlich geht es immer noch um mich: „Sondern was?“

„Lewis-Body-Demenz, eine der Alzheimer-Erkankung sehr ähnliche Form von Demenz.“

Nach einer kurzen Pause, in der er uns beide ausgiebig beobachtet, fährt er mit einer Erklärung fort. „Bei dieser Form der Demenz haben sich in den Nervenzellen des Gehirns Eiweißreste abgelagert, die nicht richtig abgebaut werden. Es ist eine seltenere Form als die Plaques, die bei Alzheimer auftreten. Sie lösen häufig schon im frühen Stadium Sinnestäuschungen und eine instabile Körperhaltung aus. Irgendwann dann auch geistige Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Es gibt Medikamente, die Sie gegen die Symptome nehmen können. Heilbar ist die Krankheit jedoch nicht.“

Wie ein Schlag ins Gesicht

Wie ein Schlag ins Gesicht ist diese Aussage für mich. Nicht heilbar? Was soll das, bitte, bedeuten? Dass ich daran sterben werde? Ich versuche, irgendwie damit klarzukommen, wenn es auch schwerfällt. Ich bräuchte jemanden, der mir mehr darüber erzählen kann, der mich vorbereitet auf das, was folgen wird, auf das, was auf mich und meine Familie zukommt. Doch es ist niemand da. Zu dem Neuro-Arzt gehe ich in regelmäßigen Abständen, aber er stellt mir nur immer neue Rezepte aus. Mehr Hilfe bekomme ich von ihm nicht. Von dem Tag der Diagnose an ist nichts mehr wie früher. Nur dass es jetzt einen Namen für mein Verhalten, für meinen Zustand gibt, der einen Tag so und den anderen so werden lässt. Es gibt Tage – wie gestern etwa, an denen ich mich zu nichts aufraffen kann. Da sitze ich den ganzen Tag über in meinem Sessel und tue nichts, bewege mich keinen Meter – außer wenn ich zur Toilette muss. Mir geht es nicht gut. Ich weiß nichts mit mir anzufangen und am nächsten Tag geht es mir wieder gut, ich will in den Garten – und das tue ich auch. Ich genieße die Vögel um mich herum, die letzten, die noch hier sind, bevor sie in den Süden ziehen, dorthin, wo es warm ist. Ich genieße die Natur und auch den Wind, der zwischen den Blättern durchpfeift. Nur was ich nicht verstehe ist, wie das alles sein kann. Was wird geschehen? Was bringt der morgige Tag? Es ist unkontrollierbar. Mein ganzes Leben ist unkontrollierbar geworden, ich habe den Faden verloren. Das tut mir nicht gut, so viel jedenfalls weiß ich.

Etwas stimmt nicht

Jeden Tag erinnert mich mein Umfeld daran, dass mit mir etwas nicht stimmt und ich nicht mehr der Mensch bin, der ich eigentlich war. Dass ich zu viel vergesse und mein Leben sich verändert hat. Früher war ich immer arbeiten, habe die Ergebnisse meiner harten Arbeit gesehen, ja sogar schmecken können. Andere haben mir Bestätigung geschenkt, indem sie meine Weine kauften, in dem sie sich Ratschläge holten und sich dafür interessierten, was ich wie tat. Heute fragt nicht mal mehr mein Schwiegersohn, der mein Gut inzwischen übernommen hat oder meine Tochter Elise, seine Frau. Niemand will mehr Ratschläge von mir. Im Gegenteil. Immer geben sie mir welche. Immer weisen sie mich auf etwas hin, was ich ja verdammt noch mal selbst nur zu gut weiß.

„Nimm deinen Stock mit, wenn du aufstehst.“

Ja, ich habe mittlerweile einen Stock, damit ich ohne Angst aufstehen und mich frei bewegen kann, ohne zu stürzen. Ich fühle mich einfach sicherer, wenn ich ihn zur Stütze habe. Seitdem bin ich auch nicht mehr hingefallen. Nur manchmal … manchmal vergesse ich, ihn auch mitzunehmen. Irgendwann fällt es mir dann zwar auf, aber um mir den Weg zu sparen, gehe ich meist nicht noch mal zurück. Meine Frau allerdings erinnert mich immer. Immer. Wirklich immer. Mittlerweile spricht sie nicht mal mehr ganze Sätze, sondern keift mich nur an: „Dein Stock!“, und zeigt hinter mich.

„Ja, ja doch“, erwidere ich genervt.

„Trink was!“, höre ich wieder ihre Aufforderung.

Ich schaue sie an.

„Du musst trinken. Das ist gut für dein Gedächtnis. Trink.“

„Meine Güte“, stöhne ich nur.

Sie macht mich allmählich aggressiv, diese Bemutterung. Sie ist nicht meine Mutter. Sie ist meine Frau. Und schon wieder, als hätte ich vergessen, was sie gesagt hatte.

„Trink das Wasser vor dir!“

„Schrei mich nicht an!“, antworte ich ihr, ohne ihrer Aufforderung nachzukommen.

Situationen wie jene sind häufiger geworden. Aber merkt sie denn auch nicht, dass sie meine Aggression provoziert? Ich will doch nur meine Ruhe, denn manchmal nervt sie einfach. Ich weiß auch, dass ich vergesse, dass ich falsche Worte benutze, aber sie muss mich nicht immer noch darauf hinweisen. Das muss sie nicht. Es ist schon schwer genug.

Und dann behauptete sie bei unserem letzten Arzttermin auch noch, ich sei in letzter Zeit immer so aggressiv. Woher das kommt, erzählt sie dann aber nicht mehr. Ich auch nicht. Ich möchte nur meine Ruhe.

„Hast du Angst?“, frage ich sie plötzlich beim Mittagessen am Küchentisch. Sie sieht mich entgeistert an. „Angst, wovor?“

„Vor der Zukunft mit mir.“

Unsicher stochert sie im Essen. Es gibt Kartoffeln und Fisch mit Erbsen und Möhrchen. Sie versucht eine Erbse einzeln aufzustechen, was ihr nicht so ganz gelingen mag. Denn sie landet neben dem Teller.

„Nein. Wieso sollte ich?“

Sie lügt mich an. Das sehe ich an ihrer Körpersprache. Sie kann mir nicht in die Augen sehen. Soll ich sie darauf ansprechen oder soll ich es gut sein lassen? Womöglich meint sie es nicht böse. Sie will uns schützen, schützen vor der Wahrheit. Ihr ist das Thema zu unangenehm, als dass sie weiter darauf eingehen möchte. Sie sagt einfach nichts. Ich blicke sie an und versuche mich mit meinen Blicken zu entschuldigen für die unangenehme Situation, in die ich sie gebracht zu haben scheine. Ob sie es versteht, kann ich nicht einschätzen.

„Und, wenn ich dich irgendwann nicht mehr erkenne?“

Sie schluckt. Ob dies an einem großen Bissen liegt, den sie im Mund hatte oder an dem Kloß, den ich mit meiner Konversation verursacht habe, weiß ich nicht genau. Aber diese Sorge beschäftigt mich nun mal zu sehr, als dass ich sie totschweigen möchte. Sie schaut kurz auf, ehe sie spricht: „Jakob, soweit wird es schon nicht kommen.“

Ich fürchte, damit ist das Thema für sie durch.

Fremde Gesichter

Heute war ein Mann bei uns. Ein Mann, der mir irgendwie bekannt vorkam. Also sein Gesicht jedenfalls. An seinen Namen kann ich mich schon lange nicht mehr erinnern. Wie bei so vielen … Namen sind das, was mir als Erstes verloren gegangen sind. Ich sehe Menschen, ob Ehefrau, Tochter, Schwiegersohn, Enkelin oder Nachbarn – alle möglichen Leute, wichtige oder unwichtige, deren Namen mir nicht gleich einfallen wollen. Meist verwechsele ich sie, manchmal kommt mir der Name erst nachher in den Sinn, dann wenn sie schon längst wieder weg sind. Wie neulich als ich im Garten war, und der Nachbar ein Gespräch mit mir anfing.

„Tschüss, machs gut …“, und ich kam ins Stocken. Ich wollte ihn mit seinem Namen verabschieden. Aber das ist gründlich schiefgegangen. Und diesmal konnte ich es noch nicht mal mehr verbergen. Ihm ist es gleich aufgefallen.

„Alois“, kommentierte er selbst, sichtlich verunsichert.

„Tschüss, Alois“, sagte ich daraufhin und war ziemlich pikiert.

In den meisten Situationen gelingt es mir mein, Unwissen zu überspielen. Etwa bei dem Bekannten, der uns neulich besuchte, konnte ich es fantastisch verbergen, dass ich weder seinen Namen wusste, noch wer er war, und woher wir uns eigentlich kannten. Meine Frau sagte mir nachher nur. „Toll, dass Raimund das immer noch macht, nicht?“

Ich stellte mich zunächst taub, und reagierte nicht. Doch sie ließ nicht locker.

„Früher ist Raimund auch öfter mit uns in den Wingert gegangen und hat bei der Traubenlese geholfen. Zum Beispiel in dem Jahr, als du es so mit dem Rücken hattest und selbst die Bütt nicht tragen konntest, weißt du noch? Er war immer da, wenn wir ihn gebraucht haben.“

Nein, ich wusste nicht mehr. Und ich glaube, das wusste auch meine Frau. Doch ich merkte ja ihr Bemühen, meine Erinnerung hin und wieder zu aktivieren, nur immer mochte ihr das eben nicht gelingen … Ich konnte nun nicht mal mehr das Gesicht desjenigen zuordnen, der uns eine lange Zeit ein guter Freund gewesen ist. Ich schämte mich zutiefst. Doch es sollte noch viel schlimmer kommen.

(…)

Teil 2

Aus Leonoras Sicht

Lieblingsopa

Es hatte mir Angst gemacht, meinen Opa so zu sehen. Er hat mir früher die Welt erklärt, erklärt, wie die Vögel, die ganzen Tiere im Garten heißen. Ich habe es geliebt, bei ihm zu sein. Er war mein Lieblingsopa, mit dem ich immer gern Zeit verbracht hat und von dem ich gar nicht mehr weg gewollt habe. Es hat Mama einige Nerven gekostet, wenn sie mich abholte, und ich nicht mit nach Hause mochte.

Gemeinsam sind wir, Opa und ich, den ganzen Sommer über, stundenlang im Gartenhäuschen gewesen und haben die tolle Aussicht von dort genossen. Ich hatte ihm immer geholfen, wenn ich das konnte. Wenn nicht, habe ich ihm einfach bei seiner Arbeit zugesehen, wie er sich etwa um den Garten kümmerte, Blumen einpflanzte oder die alte Bank neu lackierte. In meiner Lieblingsfarbe Türkis hatte er sie angemalt. Es wäre von da an nicht mehr seine Bank, sondern die unsere, hat er gesagte. Beim Spazierengehen hat er mir Geheimwege gezeigt, die ich wohl heute nicht mehr finden würde, ohne mich zu verlaufen. Ich würde mich jedenfalls nicht trauen, sie allein zu gehen, aus Angst, mich zu verirren. Im Sommer hat er mir Kirschen von ganz oben im Baum gepflückt und sie mir an die Ohren gehängt. Ich glaube, ich habe mich über Ohrringe nie so sehr gefreut! Sie waren die schönsten, die ich je besessen habe. Wir haben Kirschkernweitspucken gemacht – und manchmal habe ich sogar gewonnen. Obwohl ich glaube, dass er mich einfach nur gewinnen ließ. Niemand konnte weiter spucken als Opa. Zur Belohnung habe ich dann ein Glas Zitronenlimonade von Opa bekommen, selbstgemachte natürlich. Seine war einfach unbeschreiblich lecker. Es gab keine bessere …

All das stand für meinen Opa: das Gartenhäuschen, die Spaziergänge, die Kirschen und nicht zuletzt die leckere Zitronenlimonade, die er nur für mich in einem Geheimfach gebunkert hatte. Es war meine Erinnerung an ihn, die ich nie verlieren möchte. Sie behalte ich in meinem Herzen, solange ich ihn im Herzen habe und ich bin mir sicher, das wird für ewig sein.

Es wurde mir irgendwann jedoch klar, trotz jeglichen jugendlichen, ja teils noch kindlichen Leichtsinns, dass ich zwar die Erinnerung, nicht aber ihn für ewig behalten konnte. Und mit dieser Einsicht war auch mein Entschluss gereift, nicht erwachsen zu werden, niemals! Ich wollte nicht so abgedroschen werden, wie es die Erwachsenen zu sein schienen, die ich kannte. Dann lieber für immer kindisch und naiv sein – in meinen Augen barg das weitaus mehr Vorteile als das biedere Erwachsensein. Ich sah doch am Beispiel meiner Mutter und meiner geliebten Oma, mit denen ich mich keineswegs über den Opa unterhalten konnte, den wir kannten und erst recht nicht über das, was mit ihm passierte. Was die Demenz, so hieß das Fachwort – so viel hatte ich inzwischen nach eigenem Bemühen herausgefunden – mit ihm anstellte und wie man den Verlauf dieser Krankheit verhindern konnte. Konnte man es verhindern? Ich wusste es nicht. Vielleicht werde ich irgendwann mal, wenn ich groß bin und mich doch entschlossen habe, einmal erwachsen zu werden, Ärztin. Dann gehe ich dem auf den Grund. Aber so lange werde ich einfach nur für Opa da sein. Demente sind wie Kinder, erklärte mir mal einer, der es wissen musste. Hieß das also, dass wir jetzt quasi auf einer Wellenlänge waren? Dass wir so viel Quatsch machen konnten, und er würde mich nicht mehr ermahnen, wie er es vielleicht früher getan hätte? Würde es das bedeuten?

„Opa, komm!“

Ich nehme ihn an der Hand und ziehe ihn vorwärts. Er kommt nur langsam voran, macht nur ganz kleine, zögerliche Schritte.

„Vertrau mir!“, sage ich. Er sieht mir in die Augen, und sein Händedruck verfestigt sich. Seine Hand ist ganz kalt.

„Frierst du?“ Er sieht mich fragend an. „Ist dir kalt, Opa?“

Er nickt bloß.

Ich habe seine Jacke, die über dem Stuhl im Esszimmer gehangen hatte, mitgenommen und ziehe sie ihm nun behutsam an. Das ist gar nicht so leicht, muss ich feststellen. Seine Unsicherheit, was er mit seinen Armen anstellen soll, ist ihm anzumerken und macht das Anziehen weitaus schwieriger als ich gedacht habe. Doch mit ein wenig Geduld bekommt man alles hin, sage ich mir. Und ich habe Geduld, denn ich bin schließlich nicht erwachsen. Ich werde es nie werden. Das habe ich so beschlossen.

Das Gartenhäuschen

„Wohin gehen wir?“, fragt er auf einmal, kurz bevor wir da sind. „Wir gehen zum Gartenhäuschen!“

Ich strahle über beide Wangen und ich merke auch ihm seine Freude an. Er scheint sich erinnern zu können. Wir brauchen fast eine Stunde, obwohl es nicht weit bis dorthin ist. Das Häuschen liegt am Waldesrand. Damals haben wir immer zehn Minuten gebraucht. Oder kam es mir nur immer so kurz vor? Aber dass wir nun länger brauchen, ist nicht weiter schlimm, denn er genießt den Ausflug sichtlich. Und ich ebenso. Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Blauer, wolkenfreier Himmel und Sonnenschein. Zwar etwas frisch, aber wir haben ja beide eine Jacke an. Er schaut sich ganz neugierig um. Ob seine Erinnerung wiederkommt? Weiß er noch, wohin wir gegangen sind? Ich behalte meine Gedanken für mich und lasse seine Hand nicht los. Als wir das Gartenhäuschen sehen können, und ich das verrostete Tor öffne, fragt er mich: „Gehen wir nach Hause?“

„Wir machen Urlaub.“

„Urlaub im Gartenhäuschen?“

Ich lache und bin glücklich, dass er sich anscheinend an sein Häuschen erinnern kann. Ich lasse seine Hand los, um das wildgewachsene Gebüsch und Unkraut mit den Füßen plattzutreten und uns einen Weg frei zu machen. Hier ist lange niemand mehr gewesen – den Eindruck macht der vernachlässigte Zustand des Grundstücks, auf dem ich früher so oft mit Opa gewesen bin. Als ich denke, er würde stolpern, merke ich, dass er begonnen hat, mir zu helfen und ebenso Unkraut kleinzutreten. Ein offenes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Wir gehen an dem Kirschbaum vorbei und er bleibt stehen. Er lässt diesmal meine Hand los und streckt sich zum Ast hoch. Ich warte geduldig, was er wohl vorhat. Er greift nach einer Kirsche, die ihm gleich darauf aus den Händen gleitet und im tiefen Gras landet. Ich bücke mich und hebe sie auf, reiche sie ihm. Als er sie in die Hand nimmt, sieht er mich wieder an.

„Weißt du, was das ist?“, frage ich. „Eine Kirsche.“

Er begutachtet sie, als hätte er diese Frucht noch nie zuvor gesehen, geschweige denn in den Händen gehalten.

Zaghaft nehme ich sie ihm aus der Hand und hänge sie mir an das rechte Ohr. „Schöne Ohrringe“, meint er.

Ist es wie früher? Nein, irgendwie ist es das nicht. Ich werde auf einmal traurig. Eine Träne versteckt sich in meinem Augenwinkel, droht, meine Wange herunterzulaufen. Ich kann sie nicht daran hindern. Opa steht vor mir, er sagt nichts, wischt mir nur die Träne aus dem Gesicht. Das wollte ich nicht. Nie wollte ich vor ihm weinen. Die Situation muss doch für ihn schon schlimm genug sein. Er bekommt doch mit, was mit ihm geschieht, oder? Muss er denn immerzu noch daran erinnert werden …? Daran erinnert werden, wie sehr die Menschen, die ihn lieben, unter seinem Zustand leiden? Er kann doch nicht mal was dafür, er hat es nicht in der Hand, daran etwas zu ändern. Wir alle können das nicht. Es ist zum Verzweifeln, einfach zum Heulen.

„Schrei mal“, sagt er plötzlich. Fragend sehe ich ihn an, doch er erwidert nichts. Ich gehe ein Stück nach vorne, an den Platz mit der Aussicht auf den Fluss vor uns und schreie, so laut ich kann. Es hilft. Schreien hilft tatsächlich. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie er sich die Hände auf die Ohren hält. Ich gehe zurück und reiche ihm die Hand. Ich führe ihn zu der Bank, der türkisfarbenen Bank, deren Farbe mit der Zeit schon verblasst ist und deren Beine mit Moos bewachsen sind.

„Wir waren lange nicht mehr hier“, stelle ich fest.

„Eine Ewigkeit“, sagt er nur und seufzt tief.

Ich schaue ihn lange an, beobachte ihn, wie er die Aussicht genießt. An was er wohl denkt oder denkt er an gar nichts?

„Wie geht es dir, Opa?“

„Mal so, mal so“, antwortet er schnell.

„Und wie geht es dir gerade?“

„Gerade sehr gut.“

Er greift nach meiner Hand und hält sie fest, streichelt sie sanft und lässt sie nicht mehr los, bis wir wieder gehen.

Ungewohnt

Für jemanden, der diese Nähe und Liebkoserei nicht gewohnt ist – wie ich beispielsweise – kostet es echte Überwindung, diese zuzulassen. Meine Mutter ist eine sehr gehaltene und in sich gekehrte Frau, die Gefühle oft ganz für sich behält. Und Papa ist da nicht anders. Männer gehen ohnehin viel verhaltener mit Gefühlsregungen um, habe ich schon festgestellt. Umarmungen oder Küsse sind mir im familiären Umfeld eher fremd. Denn ich bringe es mit Jungs in Verbindung, für die ich ja laut meinen Eltern noch viel zu jung bin. Wenn es nach meinem Vater geht, hätte ich wohl in den nächsten zehn Jahren keinen. Aber was weiß ich schon? Dieses Thema ist – genauso wie der Zustand von Opa – zu Hause nur ein weiteres Tabuthema. Anfangs war ich wegen der ganzen komplizierten Situation (und falschen Erziehung meiner Eltern, wie ich empfand) noch zurückgeschreckt, als mir Opa ohne Vorwarnung über die Wange streichelte, meine Hand festhielt und anscheinend Beruhigung darin fand. Ich hatte ganz andere Empfindungen dabei. Denn ich fühlte eine gewisse Unruhe, Unwissenheit und nicht zuletzt Unsicherheit in mir aufsteigen, wie ich damit umgehen sollte.

Heute weiß ich: einfach genießen und mit ebensolcher Gefühlsregung reagieren, ist das Beste, was ich tun kann. Mit meinen 13 Jahren bin ich schon in einem Alter, in dem man sich über so vieles Gedanken macht, unnötige Gedanken. Etwa: Was die Menschen wohl denken werden, wie ich zu reagieren habe, was mein Gegenüber erwartet, wie ich reagiere. Doch seitdem ich beschlossen habe, das Erwachsenwerden erst mal aufzuschieben, gelingt mir das nun ganz gut. Den Kopf frei, kann ich mich einfach auf Opa und die Welt einlassen.

Erwachsenwerden

„Leonora, du musst mehr für die Schule machen, hörst du?“, mahnt meine Mutter mich nun schon regelmäßig. Meine Klausuren laufen so mittelmäßig. Das nächste Jahreszeugnis würde keine Glanzleistung sein, ebenso wenig wie die Jahre zuvor. Doch noch immer will sich Mama nicht daran gewöhnen. Und für mich ist eine Drei allemal ausreichend, befriedigend nahezu, wie der Name ja schon sagt. Ich stelle da keine großen Ansprüche (im Gegensatz zu Mama). Ich will nur ihr Genörgele nicht mehr hören.

„Hast du gehört?“

„Jaaha …“, antworte ich genervt.

„Tust du es auch?“

„Neein“, sage ich leise, doch für sie nicht hörbar. Plötzlich steht sie vor mir. „Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

„Ja, habe ich.“

„Und was sagst du dazu?“

„Nichts.“

„Nun werd nicht frech, Fräulein …“

„Werd ich nicht. Aber ich muss Opa helfen.“ Sie stockt plötzlich, schluckt, bevor sie weiterspricht. „Du kannst ihm nicht helfen.“

Und sie verschwindet wieder. Ich merke, dass es ihr nicht gelingt, noch weiter auf eine Diskussion einzugehen. Sie reagiert, das habe ich nun schon oft beobachtet, sensibel bei diesem Thema. Sie versucht zwar immer, stark zu sein, dabei ist sie das im Grunde gar nicht. Sie ist eine Meisterin im Verdrängen, sie lässt ihre Gefühle einfach nicht nach außen zu. Und das, so viel weiß ich mittlerweile schon, ist nie gut. Viele Erwachsene tun das. Verstehen kann ich das jedoch nicht. Denn wieso soll man, wenn einem zum Heulen zumute ist, nicht heulen, wieso soll man nicht lachen, wenn einem danach ist? Erwachsene sind bizarr, empfinde ich. Und das ist auch ein Grund, weshalb ich eigentlich nie erwachsen werden will. Das habe ich mir in den Kopf gesetzt.

Seit einigen Monaten habe ich das Malen für mich entdeckt. Kunst ist inzwischen der einzige Unterricht, der mir in der Schule wirklich Freude bereitet und einen Sinn für mich ergibt. Malen beruhigt mich und je farbenfroher meine Bilder sind, umso besser fühle ich mich. Bunt gefällt mir ziemlich gut. All meine Bilder, die fertiggestellt sind und die mir selbst gut gefallen, schenke ich Opa. Wenn ich auch nicht genau weiß, was er mit ihnen macht. Ob er sie wohl irgendwo aufhängt oder an einem besonderen Ort aufhebt? Oder ob er sie verlegt und dann nicht mehr wiederfindet? Oder ob Oma sie eventuell irgendwohin steckt, wo er sie nicht mehr wiederfinden kann? Sie vielleicht sogar entsorgt? Denn ich habe nie wieder eines davon gesehen, wenn ich am nächsten Tag erneut zu Besuch komme …

Meine Mutter meint, ich solle doch lieber mit meinen Freundinnen spielen oder mehr für die Schule arbeiten anstatt zu malen. Aus dem Alter sei ich doch wohl raus, meinte sie einmal. Ich habe nicht gewusst, dass es ein Alter dafür gibt. Ob ich irgendwann auch zu alt zum Musikhören oder zum Lesen sein werde? Das ist noch ein zusätzlicher Grund für mich, nicht erwachsen werden zu wollen. Ich habe mittlerweile wirklich eine ganze Menge Gründe dagegen gefunden, die ich alle in einer sauber aufnotierten Pro-Nicht-Erwachsenwerden-Liste zusammengestellt hatte. Positives gab es für mich da nur sehr wenig: z. B. FSK 18 Filme schauen oder Auto fahren zu dürfen und Sex zu haben. Dabei haben mir einige Bekannte, die schon erwachsen sind, anvertraut, dass es all das nicht wert sein würde. Meine Liste ist also korrekt. Die Kontra-Seite überwiegt eindeutig und mein Entschluss steht endgültig fest – ich möchte nicht erwachsen werden.

(…)

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Auszug aus „Spiel der Tränen“

Spiel der Tränen Katharina Göbel Leseprobe

~Eine Träne~

Eine Träne ist mir gekrochen

aus den Tiefen meines Herzens

sie hat sich versteckt

gewiss schon seit einigen Wochen

Eine Träne die siehst du nicht

sie hat sich auf die Reise gemacht

sie hat sich versteckt

sich unter die Schmerzen gemischt

Eine Träne ist auf der Reise

schlängelt sich durch die dunkelsten Gänge

sie hat sich versteckt

bleibt unbemerkt ganz leise

Eine Träne läuft meine Hand hinunter

sie läuft darüber

und darunter

mach dir keine Sorgen

sie brennt sich ein in die Haut

und bleibt für immer dort verborgen

 

Auszug aus dem vorläufigen Manuskript mit dem Arbeitstitel „Pseudonym“

Das Ende

Damian saß an seinem Schreibtisch, auf dem er kaum mehr Platz zum Schreiben fand vor lauter zerknüllter Papiere und Dokumente, Bücher, Utensilien, die er zu seinem anfänglichen Hobby tagtäglich benötigte. Ihn machte das Chaos nicht wahnsinnig, es beruhigte ihn. Ganz im Gegensatz zu seiner Freundin Edith oder seiner Katze Miu, die ständig sein heiliges Chaos – wie er es liebevoll zu nennen pflegte – grazil und doch offensichtlich vom Tisch warf. Aber ihr konnte er nicht böse sein. Zerstreut wie er war, irritierte ihn dies bloß, ständig wieder auf die Suche nach Sachen zu gehen, die er doch eigentlich zielgerichtet auf mehrere Stapel sortierte. Miu machte Platz, um sich vor ihn zu legen und ein Schnurren von sich zu geben, das aus tiefem Herzen kam. Es besänftigte ihn. Er saß also da, nachdenkend, die Katze streichelnd und haute in die Tasten, als ihm wieder eine Idee in den Sinn kam. Aus Ideen entstanden Sätze, die sein nächster Bestseller werden sollten. Der Verlag hatte ihm eine Frist gesetzt, die er gerne wieder und wieder verschob und sich dadurch im Verlag keine großen Freunde machte. Sie verstanden nicht. Schreiben war doch kein Job wie jeder andere auch. Fristen – wie er sie hasste. Sie setzten ihn unnötig unter Druck. Er ließ sich nicht gerne die Pistole auf die Brust setzen. Er entzog sich dem soweit es ihm möglich war. Immer aufs Neue. Und aufs Leidwohl seiner Lektorin, die schon eine Engelsgeduld mit ihm hatte. Er strengte sich an, grübelte nach. Nur noch das Ende fehlte ihm. Nur einige Seiten noch. Dann wäre sein Werk vollbracht. Doch das Ende war ihm das Wichtigste an allem. Es musste reif überlegt sein, um aus einem Buch einen Erfolg zu machen. Was nützten ihm 300 Seiten voller Spannung und Finesse, wenn der Schluss lahmarschig und unzufriedenstellend war? Er liebte abrupte Wendungen. Und das erwartete auch seine Leserschaft von ihm.

Nachdem Damians erster Roman eigentlich eher durch Zufall auf den Bestsellerlisten auftauchte, einen wahren Hype auslöste, folgte auch sein Nachfolger mit ebensolchem Erfolg. Er liebte es, das zu tun, damit seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, was ihm die größte Freude bereitete. Mochten seine Freunde und Bekannte doch behaupten, was sie wollten. Mochten sie es schlecht machen, er wandt sich lieber von jenen ab, statt sich selbst aufzugeben. Es war von Nöten an sich zu glauben, eventuell auch ein wenig überheblich zu sein. Ohne das hätte er diesen Erfolg nie haben können. Sie verstanden nicht, die Bürohengste und billigen Angestellten, die tagein tagaus den selben Scheiß-Job machen mussten. Ihn graußte es, darüber nachzudenken, jeden Tag in Herrgottsfrühe aufzustehen, um zur Arbeit zu fahren, die gleichen blöden Gesichter zu sehen, und sich den Arsch für andere aufzureißen. Wie es ihn graußte. Herold, sein einst bester Freund, war Bankangestellter. Jeden Tag geschniegelt im Anzug und Krawatte, jeden Tag denselben Triss. Der arme Herold. Herold war nahezu reich. Sein Gehalt überstieg das durchschnittliche Einkommen all jener die er kannte, von seinem eigenen Hungerslohn, den er durch das Honorar seiner bisherigen Bücher verdiente ganz zu schweigen. (Und er war ein erfolgreicher Schriftsteller.)Herold fuhr Mercedes S Klasse, besaß ein Haus, zwei bezaubernde Kinder, eine reizende Ehefrau und eine noch reizendere Geliebte. Doch für Damian – um kein Geld der Welt!

Bevor er dahin gekommen ist, wo er jetzt gerade war als erfolgreicher Autor, der von seinem Hobby ernsthaft leben konnte, war er richtig arm gewesen. Hatte jeden Pfennig zweimal umdrehen müssen. Musste im Supermarkt das günstige Fleisch kaufen und auch bei allem anderen Dingen stets auf den Preis achten, vergleichen, verzichten. Es war eine Qual, ein Kampf um jeden Tag seines Lebens. Nie wieder! Hatte er sich gedacht und drauf losgeschrieben. Er hatte daraufhin gearbeitet, irgendwann mit dem was er kann, sein Geld zu verdienen. Soviel Geld, das er davon gut leben konnte. Er mochte keinen Mercedes fahren, er mochte kein Haus kaufen oder geschweige denn eines bauen. Es ging ihm nun sehr gut, ohne das alles. Der größte Luxus war für ihn diese Sorgen, die ihm so viele schlaflose Nächte bereitet hatten, die ihm so nah an sein Nervenkostüm gegangen waren, das er oft kurz vorm Explodieren war, für ein und alle mal begraben zu können. Bestialisch empfand er den Zustand, dass die Ungerechtigkeit die Welt übermannte, das grade in Deutschland diese Schichtenklaft so immens war, dass der normale Bürger, der sich abmühte, Tagein Tagaus arbeitete und machte, immerzu nur noch mit zusätzlichen Kosten belastet wurde, die ihm das Leben zur Hölle machten. Hartz IV sei dank konnten Menschen auch ohne harte Arbeit gut leben. Und die Arbeiter waren die Leidtragenden. Er war so froh, als er endlich genug Geld hatte, dass er von keinerlei finanzieller Unterstützung mehr abhängig war. Wenn er auch nie soziale Hilfe in Anspruch genommen hatte, aus Trotz und auch in tiefster Not erhaltenem Stolz. Schließlich versank er bereits vor Freunden und Familie in Scham, wenn es darum gegangen wäre sie um Geld zu bitten. Lieber wäre er verhungert. So hatte er ganze zehn Kilo in dieser Zeit abgenommen. Er setzte Prioritäten – und weder sprang er über seinen Schatten, um sein Gesicht zu verlieren noch würde er aufs Schreiben verzichten. Dann lieber aufs Essen. Auf alles andere, nur nicht aufs Schreiben.

Glücklich war er heute, richtig glücklich mit Edith an seiner Seite. Sie war Buchhändlerin in der ortsansässigen kleinen Buchhandlung. Wenn sie über Bücher sprach, schmelzte jeder seiner Kunden dahin. Sie liebte Bücher über alles, wahrscheinlich sogar mehr als ihn. Doch das störte ihn nicht. Er konnte es nachvollziehen, er konnte sich den Platz mit Büchern teilen. Durchaus. In ihrer Buchhandlung hatte er sie auch kennengelernt, als er sich einen guten Krimi kaufen mochte und sie um Empfehlung bat. Er hatte sie nach dem Kauf auf einen Kaffee eingeladen und sie hatten sich weiter über das Buch unterhalten. Zwei ganze Stunden lang. Normalerweise verliebte er sich nie. Hatte er noch nie. Vor Edith. Doch als sie begeistert und völlig losgelöst, voller Emotionen über den Inhalt des Krimis sprach, war er ihr verfallen. Er liebte es der Form ihrer Lippen zu folgen, den Klang ihrer Stimme zu hören und ihren Anblick ununterbrochen anzusehen. Als er den Blick nicht von ihr wenden konnte, merkte er, wie sie nervös wurde. Sie fing an mit ihren schwarzen, widerspenstigen Locken zu spielen, beobachtete, wie sich ihre Haare zwirbelten. Und es gefiel ihm. So kam er jede Woche zu ihr in den Laden, um sich ihre neuen Empfehlungen anzuhören, neue Bücher zu kaufen, die er irgendwann gar nicht mehr begonnen hatte überhaupt zu lesen. Stattdessen hatte er sein neues Werk angefangen zu schreiben. Mit dem Ziel, sie würde irgendwann auch über seines so begeistert sprechen wie über so viele andere. Nichts weiter als purer Optimismus war es, der ihm dazu verhalf, sein Manuskript selbst den großen Verlagen anzupreisen. Wenn er auch nachher bei Gesprächen mit seinen Kollegen und verzweifelten Schreiberlingen, die bereits an dieser Hürde scheiterten, immer und immer wieder, erfuhr, dass es ein wahrer Glücksgriff sei, bei einem großen Verlag angenommen zu werden. Die meisten antworteten einem nicht mal bei einer Absage, die meisten Manuskripte schafften es nichtmal auf den Schreibtisch des Lektors. Doch Damian war es gelungen. Wie wusste er selbst nicht. Er hatte weder damals Angst besessen oder Ehrfurcht vor den Großen und dem roten Stift des Lektors, noch heute vor seiner Konkurrenz und den wechselnden, sich auf ihn negativ auswirkenden Buchmarkttrends. Im Gegenteil. Er konnte die Veröffentlichung seines neuen Buchs kaum erwarten und schien zum ersten Mal in seinem Leben die Frist für seinen neuen Roman einhalten zu können, seitdem er mit Edith zusammenlebte, die ihn in seiner Kreativität stets beflügelte. Doch nun fehlte eben nur noch dieses verflixte Ende. Es musste bahnbrechend sein, überzeugend und einzigartig. Es fiel ihm nichts ein. Keine Idee, die er im Kopf formte, konnte er aufs Blatt bringen, bevor er sie nicht wieder und wieder verwarf, weil sie nicht gut genug war. Er schrieb handschriftlich ein Script, das ihm helfen sollte, ein gelungenes Ende zu finden, die richtigen Worte zu wählen oder eine Handlung folgen zu lassen. Wütend zerknüllte er den zehnten Zettel für diesen Tag und warf ihn in die Ecke. Er schaute sich um, und bemerkte erst jetzt die Unordnung, die er heute in seinem kleinen Reich verursacht hatte. Er drehte sich wieder um, mochte noch einmal die letzten Seiten seines unvollständigen Manuskripts lesen, als er in die leuchtend grünen Augen von Miu blickte. Sie sah auf, ihm genau in die Augen und öffnete ihren Mund ohne einen Laut von sich zu geben. Er könnte sich schlapp lachen über die Katze, wenn sie das tat. Er schmunzelte. „Okay“ sagte er stöhnend, stand auf und bewegte sich Richtung Tür. Er blickte sich nochmals um. „Komm schon, wir hören auf für heute!“ Und Miu folgte ihm aus seinem Arbeitszimmer, hinter dem er die Tür für den heutigen Tag schloss.

Ach Edith

Gemeinsam mit Miu trat Damian in die Küche, in der Edith gerade kochte. „Was gibt’s denn?“ fragte er, während er bereits in die Töpfe auf dem Herd sah. „Oh, Pasta“ kommentierte er etwas enttäuscht. „Nicht gut?“, entgegnete Edith irritiert. „Doch… ich dachte nur, es gäbe mal was anderes, zur Abwechslung.“ sagte er mit einem Grinsen im Gesicht. „Na komm schon, so oft gab es das nun diese Woche auch nicht. „Was möchtest du dazu, Bolognaise in Ordnung?“ „Wie du möchtest!“ sprach er und ging ins Wohnzimmer, wo er sich aufs Sofa fallen ließ. Kaum saß er, kam Miu angeflitzt und sprang ihm auf den Schoß. Er nahm das Buch in die Hand, das er sich aus Recherchegründen für seinen Roman gekauft hatte, um lustlos darin zu blättern. Er war erschöpft. Den ganzen Tag hatte er vorm Rechner verbracht und es kam nichts Gescheites dabei raus… Vielleicht fand er im Buch die Lösung für sein gelungenes Ende. Miu miaute. Er sah zu ihr runter und verstand. Er legte das Buch weg und schloss die Augen. Edith trat ein. „Was ist los?“ „Nichts“ Ihm entging der böse Blick seiner Lebensgefährtin nicht. „Ich bin erschöpft, noch immer habe ich keinen Schluss.“ „Vielleicht fällt mir was ein. Wieso willst du es mich nicht mal lesen lassen?“ „Ach, Edith…“ war sein einstiger Kommentar bei dem er es beließ. Keines seiner Manuskripte hatte er vor der Veröffentlichung jemand anderen außer seiner Lektorin zum Lesen gegeben. Er mochte es nicht leiden. Und so sehr er Edith auch liebte, daran müsste sie sich gewöhnen.
Als sie merkte, dass das die einige Reaktion war, verabschiedete sie sich wieder in die Küche, zur Bolognaise. Er döste inzwischen und bekam doch die Gedanken an sein Manuskript nicht aus dem Kopf. Wach wurde er erst wieder, als er den Geruch von Pasta und Tomaten wahrnahm. Vor ihm stand ein großer Teller Spaghetti Bolognaise und er freute sich sogar drauf. Nach dem Essen kuschelten Edith und Damian ein wenig miteinander. Dafür hatte er in den letzten Wochen schlicht keinen Kopf gehabt, auch heute war ihm nicht wirklich danach. Doch er sah ihr an wie sie sich nach Liebkosungen sehnte. Er streichelte ihren Körper, genoss die Berührung ihrer zarten Haut ebenso. Er nahm ihren Kopf in seine Hände und küsste sie liebevoll. Sie sah ihm verführerisch in die Augen. „Wir sollten mal wieder wild sein, unseren Gelüsten nachgehen, dreckig und versaut.“, flüsterte sie so leise, dass er es kaum verstand. Er war gedanklich schon wieder weit weg und grummelte nur statt eine Antwort zu geben. Sie berührte ihn, fasste ihm zwischen den Schritt und festigte ihren Griff. Edith begann seinen Reißverschluss an der Hose zu öffnen, er zuckte. Er stand im Zwiespalt. Sollte er das nun zulassen, obwohl ihm gar nicht danach war? Sie erhoffte eine Reaktion, dass sie ihn erregen könne und seine Gedanken von seinem Manuskript zu lösen, doch hatte sie den Anschein, das dem nicht so war. Es erregte sie mehr von ihm verführt zu werden als selbst aktiv zu sein, doch sah sie eben, dass sie anders momentan nicht auf ihre Kosten kam. Auf ihre Kosten! Sie schmunzelte innerlich. Es ging ihr ja nicht darum, ihn auszunutzen. Nur intim sein wollte sie mit ihm, ihm einfach mal wieder nahe sein. Fast drei Wochen lag der letzte Sex zurück. Er war ununterbrochen mit Schreiben beschäftigt gewesen. Sie umgriff sein Glied und rieb daran. Er gab sich alle Mühe, seinen Kopf einmal auszuschalten, nicht über Morde, Vergewaltigungen und Polizeikommissare nachzudenken. In seinem aktuellen Roman ließ er zwei unschuldige Mädchen sterben, quälte sie nach den brutalsten Mitteln der Gewalt. Auch ihn selbst überraschten die Handlungen der Protagonisten stets. Das einzige was er detailliert wusste, war wie der Mörder aussah: Etwas längere schwarze Haare, hellblaue Augen, eine hakige Nase, ein markantes Kinn, massiver Bartwuchs. Seine Stimme war dunkel und rauchig, ziemlich erotisch nahezu. Seine großen Hände waren fest und kräftig, die Statur muskulös. Nur sein Bauch wies eine Fettpolsterung auf, die wohl eher vom Bier kam als vom ungesunden Essen. Er trug gerne bunte Hemden, und unten rum meist Jeans. Er wirkte anziehend, besonders auf jüngere Frauen oder kleine Mädchen.

Damian wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ihn ein tiefer Schmerz durchzog. Edith hatte es zu gut gemeint und ihm auf die empfindliche Haut seines Penis gebissen. Zähne auf dem dünnen Stück Fleisch.. uhh das tat nicht gut. „Ach, Edith!“ war sein einziger Kommentar, der die Stimmung umgehend kippte.

Auszug aus „Kleine Lyrik  – Liebeslust“

Heiße Küsse.

Wenn du deine Lippen auf meine zubewegst

meine Hand auf meine Wangen legst

meine Haare wild durcheinander wühlst

und mir sagst was du fühlst

wenn du liebe Worte sprichst

während du mir die Träne weg wischst

Seelengenuss.

Wie deine Blicke mich versehen

um deinen Kopf nach mir zu drehen

das Geheimnis erwecken

denn schmecken

tu ich deinen Duft der Lippen

das Pochen und das Tippen

meines Herzens in der Brust

ist höchster Seelengenuss